Jüdische Kreide-Porträts

Seit 2010 arbeite ich an einer Serie jüdischer Porträts, für die ich das Buch „Jüdische Porträts“ der deutschen Fotografin Herlinde Koelbl als Ausgangspunkt genommen habe. Von 1986 bis 1989 hat sie jüdische deutsche Frauen und Männer interviewt, die nicht dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. Diese Frauen und Männer gehörten zur letzten Generation, die Deutschland vor Kriegsanfang verlassen hat. Sie konnten zurückkehren, um ihre Geschichten zu erzählen.

Eigentlich hatte ich gar nicht geplant, alle Fotos aus diesem Buch als Kreide-Porträts zu gestalten. Als ich das Buch geschenkt bekam, hat mich das Foto auf dem Umschlag sofort sehr angesprochen. Daraus entstand mein erstes Kreide-Porträt, und schon bald folgten die anderen aus dem Buch.

Der Blick der Menschen scheint mit ihren Gesichtszügen übereinzustimmen. Das hat mich fasziniert. Ich wollte meine eigenen Porträts schaffen, um ihre Geschichte zu verstehen. Eine Geschichte ohne Wörter, denn die dazugehörigen Interviews habe ich immer erst hinterher gelesen, nachdem mein eigenes Werk bereits seinen eigenen Charakter bekommen hat.

Die Gesichter, die Menschen mit ihrer Verletzlichkeit, gezeichnet durchs Leben, gealtert, im Gepäck viele Geschichten ... Dies alles kommt dermaßen stark zum Ausdruck, dass sie eine gewisse Schönheit ausstrahlen und meiner Meinung nach äußerst faszinierend sind.

Anfangs waren es vor allem die großen Köpfe, die mich faszinierten. Die Tatsache, dass das Gesicht das gesamte Foto ausfüllt. So habe ich sie erst auch in meinen Porträts gestaltet. Später entstand mehr Raum für die Porträts mit mehr Platz um sie herum. Es machte mir immer mehr Freude, gerade die Flächen um die Gesichter herum auszufüllen.

Sowohl beim Schaffen als auch beim Ansehen meiner Tafeln spielt die Dynamik zwischen Abstand und Nähe eine wichtige Rolle. Genau wie die Spannung zwischen Bildaufbau und Komposition. Erst das Werk aus der Ferne ausführlich betrachten, dann nahe herankommen, um die Details in mich aufzunehmen, um anschließend aus der Distanz das gesamte Werk besser erfassen zu können. Diese Bewegung ist ein essenzieller Teil beim Entstehen meiner Werke.

Die fotografierten Porträts als Momentaufnahme haben mich in einen Prozess der Bewegung versetzt. Aus dem Kreidestaub heraus entstand jeweils ein neues Gesicht, jemand, der mir vom Foto her vertraut erschien. Doch jedes Mal war ich überrascht, dass irgendwie auch eine neues Person entstanden war.

Ich hoffe, dass ich auch andere Menschen mit meinen Werken bewegen kann ...

Jedes Porträt, jede Person braucht unterschiedlich viel Platz, braucht eine andere Position im Raum. So vertragen manche Porträts beispielsweise keinen Rahmen. Und trotzdem bilden sie alle gemeinsam eine schlüssige Geschichte.